Call for Papers - Orientierung
Veröffentlicht am 2025-05-09LIMINA 9:1 (Frühjahr 2026)
Call for Papers - Orientierung
Seit Jürgen Habermas 1985 die „neue Unübersichtlichkeit“ diagnostizierte, hat die gesellschaftliche Komplexität weiter zugenommen. Individuen und Institutionen stehen vor der Herausforderung, sich in einem zunehmend fragmentierten und von Unsicherheiten geprägten Umfeld zurechtzufinden. Ein Aspekt dieser Entwicklung ist dabei der Bedeutungsverlust allgemein akzeptierter Normen- und Sinnsysteme zugunsten einer Pluralisierung und Individualisierung von Orientierungs- und Sinnstiftungsmustern.
Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass gerade auch eine plurale und individualistische Gesellschaft auf Normen und Orientierung angewiesen ist, um Zusammenleben zu ermöglichen. Darüber hinaus sind Menschen auch als Individuen auf Orientierung angewiesen und suchen Sicherheit entlang unterschiedlichster Normangebote. Auf diese Weise haben sich in den letzten Jahren neue normative Diskurse und Angebote etabliert: Auf gesellschaftlicher Ebene werden unterschiedliche Vorstellungen von „Ethik“ und „europäischen Werten“ verstärkt öffentlich diskutiert, was nicht zuletzt ein Ringen um Gemeinsinn, Verbindlichkeit und soziale Identität darstellt. Fragen nach den normativen Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der eine Gemeinschaft verbindenden Werteordnung bringen das zum Ausdruck. Auch die gesellschaftlichen Subsysteme von Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung und Medien suchen nach Orientierung und den sie prägenden normativen Maßstäben.
Auf individueller Ebene haben, verstärkt durch Soziale Medien, Influencer:innen oder charismatische religiöse Prediger:innen und öffentliche Figuren die Rolle von Stifter:innen von Normen und Orientierung eingenommen. Dabei werden nicht nur neue und alternative Norm- und Orientierungsmodelle entwickelt; vielmehr erscheint sowohl in öffentlichen wie auch privaten Kontexten eine Rückkehr zu traditionellen Normen, Rollenbildern oder vermeintlich bewährten politischen und religiösen Konzepten als Antwort auf Desorientierung und Normenschwäche in der Gesellschaft wieder attraktiv. Dies wird nicht selten auch als rebellischer Akt und Protest gegen neue, liberale Normen wie Toleranz oder Diversität inszeniert.
Religion nimmt traditionell eine zentrale Rolle in der Sinn- und Orientierungsstiftung ein – sowohl für Individuen als auch für Gemeinschaften. Die Bibel und andere religiöse Schriften geben immer wieder Hinweise darauf, wie Menschen in einer Welt der Unsicherheit und des Wandels ihren Platz finden können. Religiöse Traditionen und Praktiken bieten eine Basis für eine Orientierung, die auf einem übergeordneten Sinn gründet. Doch wie steht es heute um diese Funktion? Während neue religiöse Bewegungen alternative Formen der Sinnsuche anbieten, ringen etablierte Kirchen mit ihrer Rolle in einer pluralistischen Gesellschaft. Parallel dazu erschwert es die digitale Informationsflut, verlässliche Orientierungspunkte zu identifizieren, und fördert Skepsis gegenüber traditionellen Wissensautoritäten.
Die kommende Ausgabe von Limina widmet sich daher dem Thema Orientierung und fragt nach Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Navigation in einer sich rasant wandelnden Welt.
Mögliche Fragestellungen
- Welche Rolle spielen Religionen und Glaubensgemeinschaften heute bei der individuellen, aber auch der politischen, rechtlichen, pädagogischen, medialen und gesamtgesellschaftlichen Suche nach Orientierung und Sinn? Sind traditionelle religiöse Institutionen und deren Semantiken noch tragfähige Orientierungspunkte? Welche Impulse kann eine theologische Reflexion auf den Begriff der Orientierung für Kirche und Gesellschaft setzen?
- Worin gründet das Bedürfnis nach Orientierung und was wird da eigentlich gesucht? Wie hat sich dessen Gestalt im Kontext aktueller Transformationsprozesse verändert?
- Was verbindet und was unterscheidet religiöse Sinn- und Orientierungsangebote von säkularer ethischer Normativität? Wie werden diese jeweils verbindlich?
- Wie wird Orientierung im biblischen Kontext verstanden und in der religiösen Praxis vermittelt? Welche Bedeutung haben Narrative als Sinnstiftung in Zeiten gesellschaftlicher Unsicherheit?
- Wie gehen Kirchen und Religionsgemeinschaften bzw. Theologien mit der Spannung von Autonomie und Bindung bei der Suche nach Orientierung und Normen um?
- Welche Herausforderungen ergeben sich durch die Informationsflut und die Verbreitung von Fake News für traditionelle und moderne Orientierungsangebote?
- Inwiefern bieten Konzepte wie Resonanz oder Lebensqualität neue Perspektiven für die Orientierung(slosigkeit) in einer komplexen Welt?
- Welche expliziten und impliziten neuen Normen und Orientierungssysteme haben die letzten Jahre hervorgebracht? Was hat sie entstehen lassen und worin sind sie begründet? Wie werden sie wirksam?
Inwiefern ist die Rückkehr zu traditionellen Normenkonzepten (etwa mit Blick auf traditionalistische oder fundamentalistische Religion, traditionelle Geschlechterrollen, Nationalismus oder Ehre) als Reaktion auf die Suche nach Orientierung zu verstehen?
Wenn Sie einen aktuellen, noch nicht publizierten, innovativen wissenschaftlichen Beitrag in deutscher oder englischer Sprache, der auch gern interdisziplinär angelegt sowie methodisch unkonventionell sein kann, zu diesem Schwerpunktthema in der Zeitschrift LIMINA – Grazer theologische Perspektiven publizieren möchten, dann senden Sie bitte das Konzept Ihres Beitrags (max. 4.000 Zeichen) an limina(at)uni-graz.at.
Der vollständige Beitrag sollte nicht mehr als 40.000 Zeichen umfassen. Informationen zur Zeitschrift, zum Peer-Review-Verfahren und zu den Publikationsrichtlinien finden Sie auf: http://unipub.uni-graz.at/limina.
Einsendeschluss für Beitragskonzepte: 30. 06. 2025
Entscheidung über die Annahme der Beitragskonzepte: 07. 07. 2025
Einsendeschluss für die ausgearbeiteten Beiträge: 15. 10. 2025
Erscheinungstermin: Mai 2026
Herausgeber dieser Ausgabe:
Christian Feichtinger und Ralf Lutz
Schriftleitung:
Peter Ebenbauer